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Humanistische Fotografie

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts leben wir in einem Zeitalter, in dem Fotografien einerseits zunehmend von Maschine zu Maschine weitergegeben werden, ohne an das menschliche Auge zu gelangen. Oder die Fotografie wird zu einer „Egomaschine“ umfunktioniert, wie im Selfie-Kult in der Welt der „sozialen“ Medien. In diesem Kontext wirkt ein Begriff wie humanistische Fotografie wie ein krasser Anachronismus.

Humanistische Fotografie wird in bestimmten Kontexten als stehender Begriff verwendet. Bezeichnet wird dadurch eine internationale Bewegung von Fotografen in Europa und den USA, deren grosse Zeit mit derjenigen des Magazin- und Illustrierten-Booms der 1930er bis 1960er Jahre zusammenfällt. Als sehr unterschiedliche Vorbilder (Vorläufer) liessen sich Jacob August Riis und Lewis Hine anführen. Ebenfalls in diese Periode fällt die Gründung und prägende Wirkung der Fotografenagentur Magnum, deren Gründung und mediale Präsenz auf beiden Seiten des Atlantik für die Humanistische Fotografie prägend war.

Es sind Namen wie Robert Capa, Cornell Capa, Henri Cartier-Bresson, Chim, George Rodger, Werner Bischof, René Burri, Marc Riboud und W. Eugene Smith (zeitweises Magnum-Mitglied), also Fotografen der ersten und zweiten Magnum-Generation, die den Kanon innerhalb von Magnum bilden. Prägende Namen jenseits von Magnum sind u.a. August Sander, Edouard Boubat, Paul Strand, Bill Brandt, Brassai, Louis Stettner, André Kertész, Robert Doisneau und die Fotografen des Farm Security Administration Projekts in den USA[1].

Die Haltung der Fotografen ist die eines poetischen Realismus, der sich eine Feier des Menschlichen zum Grundsatz macht, und der auf die beiden Weltkriege, den aufkommenden Kalten Krieges und die daraus resultierenden Traumata reagiert. Sie insistiert auf einer normativ verstandenen, überkulturellen menschlichen Essenz, deren Facetten in Alltagsmomenten (das Schicksal des kleinen Manns, der kleinen Frau) oder extremen Momenten (das menschliche Drama) fotografisch aufgenommen werden. Als Fotografie, die konkrete Menschen zeigt, ist diese Fotografie, wie auch viele Werke der realistisch orientierten Malerei, gleichzeitig am Überpersönlichen, Exemplarischen interessiert, das in der medialen Inszenierung und Wirkung zum Ikonischen werden kann oder soll.

Ein weiteres wirkungsästhetisches Motiv – in Teilen der Bewegung wie der concerned photography das entscheidende – ist der Anspruch, durch das Zeigen von Missständen nicht nur aufzuklären und Betroffenheit auszulösen, sondern soziale Reformen zu bewirken. Ihren vorläufigen Höhepunkt in Sachen Popularität und Zuspitzung der verschiedenen erwähnten Ansprüche erreicht die humanistische Fotografie 1955 mit der MoMA-Ausstellung „The Family of Man des Kurators und Fotografen Edward Steichen die dem Ideal verpflichtet ist, die „universal brotherhood of mankind“ durch die „Weltsprache Fotografie zu manifestieren, und die später von Roland Barthes und anderen als ideologisch, ahistorisch und ethnozentristisch kritisiert wurde.

Und heute? Seit den diversen Dekonstruktionen der Haltung von „The Family of Man“ haben sich viele Fotografen von der humanistischen Haltung und deren „good intentions“[2] distanziert, nicht aber vom dokumentarischen Potenzial des Mediums Fotografie, für die es, auch im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung, weiterhin ein Bedürfnis und eine Notwendigkeit gibt. Die zentrale Haltung dieser neueren Ansätze ist zwar nicht mehr von einer als naiv empfundenen Betroffenheit, geprägt, ohne aber Gleichgültigkeit an den Tag zu legen, sie sind „unconcerned but not indifferent“[3].

[1] Photospeak – A Guide to the Ideas, Movements, and Techniques of Photography 1839 to the Present. Gilles Mora, 1998, Abbeville Press, New York. pp. 105-107

[2] Good Intentions.Ingrid Sischy, 1991 in: The New Yorker, September 9.1991, p. 89-95

[3]UNCONCERNED BUT NOT INDIFFERENT. Adam Broomberg and Oliver Chanarin, 2008, in: Foto8, London